Das Erbe des Phoenix

„Das Erbe des Phoenix“
von Dandelion

Die Bibliothek von Armad-Maar wird im Volksmund auch die Geheime Bibliothek genannt und manche bezeichnen sie sogar als die Unsichtbare Bibliothek, obwohl ich aus eigener Erfahrung weiß, dass sie weder das eine noch das andere ist. Und dennoch halten sich hartnäckig die Gerüchte, dass es in der Bibliothek, die kaum jemand mit eigenen Augen gesehen hat, nicht mit rechten Dingen zugeht. Man spricht flüsternd davon, dass dort gefährliche Bücher voll Schwarzer Magie aufbewahrt werden und unzählige tödliche Geheimnisse wie garstige Spinnen geduldig in den Ecken hausen und auf jene Unglücklichen lauern, die sich dann in diesen Gespinsten aus Mord, Verrat und Betrug unrettbar verfangen.

Einige behaupten sogar hinter vorgehaltener Hand, dass neben den früheren Regentinnen auch etliche zwielichtige und dunkle Gestalten und sogar die Oberpriester des Roten Ordens in der Bibliothek ein und ausgegangen sind, um sich dort zu ihren neuen Grausamkeiten gegen das Volk inspirieren zu lassen. Natürlich sind dies alles nur Gerüchte, die jedoch durchaus einen Funken Wahrheit enthalten können, doch wer weiß heute schon mit Bestimmtheit zu sagen, wo genau die Wahrheit endet und die Lüge beginnt?

Eigentlich unterscheidet sich die Geheime Bibliothek, wie ich sie der Einfachheit halber auch weiterhin nennen werde, im Wesentlichen nicht von anderen Bibliotheken, Bücherhallen und den Lesestuben des Landes. Wie dort gibt es auch hier eindeutig zu wenig Sitzmöglichkeiten, mangelhafte Lichtquellen und Personal, das nie aufzufinden ist, wenn man es benötigt.
Unbestreitbar besonders/einzigartig ist jedoch die Größe der Bibliothek von Armad-Maar. Selbst wenn man jedes Buch, jeden Folianten und alle Pergamente zusammentragen würde, die im Lande verstreut in verstaubten Regalen vor sich hinmodern und auf einen Leser warten, der sie aus ihrem Dornröschenschlaf weckt, so hätte man gerade genügend Material beisammen, um die Regale in lediglich einem Raum der Geheimen Bibliothek zu füllen.

Nur wenige haben wirklich Zugang zu den Räumlichkeiten und ihren Schätzen; ein Zugang, der sowohl von starker Magie als auch durch die Regeln des Blutes geschützt wird. Die Familie der Regentin von Armad-Maar und deren Nachkommen sind die einzigen, die wissen, wo genau sich der Eingang zur Geheimen Bibliothek befindet und auf welche Weise er zu nutzen ist. Und natürlich der Bibliothekar. Denn wie jede andere Bibliothek benötigt man auch hier jemanden, der sich genauestens in den weit verzweigten Regalsystemen und Zimmerfluchten auskennt und auf Anhieb weiß, wo die seltenen und nicht minder kostbaren Exemplare zu finden sind, die nicht in falsche Hände geraten dürfen. Er ist der Einzige, der den Versuch unternimmt, wieder Ordnung in das Chaos zu bringen, das ihm seine unachtsamen und faulen Vorgänger in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten hinterlassen haben. Dieser Aufgabe widmet sich Malachias bereits wesentlich länger, als meine Erinnerung zurückreicht. Ich kenne sonst niemanden, der sich so vollkommen in seine Tätigkeit vertiefen kann, dass er alles andere um sich herum, sofern es seine Arbeit nicht unmittelbar berührt, nicht mehr zur Kenntnis nimmt.
Malachias bemerkte deshalb nicht, wie ich am Vorabend der Krönung des neuen Regenten die Bibliothek betrat, ein halb gefülltes Horn mit goldenem Honigmet in meiner Hand.

Im Hofe des Palastes war das Fest zu Ehren des neuen Regenten im vollen Gange. Zu meinem Glück hatten die anwesenden Gäste dem Alkohol schon reichlich zugesprochen, denn sonst wäre mein Verschwinden sicherlich schnell bemerkt worden, vor allem, weil ich an diesem Abend im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stand. Lediglich eine junge Harpyie zwinkerte mir verführerisch zu, als ich mich davonschlich und mir heimlich meinen Weg durch die angeheiterte Menge bahnte. Sie war schön, doch nach einem Blick auf ihre scharfen Krallen stand für mich fest, dass ich mich dieser Schönheit ohne eine vorherige Maniküre nicht mehr als fünf Schritte nähern würde.

Die Stille in der Bibliothek war nahezu greifbar. Die einzigen Geräusche, die ich vernahm, waren das angestrengte Ächzen und Keuchen Malachias', der in einem der benachbarten Räume arbeitete, und das Kratzen einer Feder über Pergament, das nur in den wenigen Momenten abbrach, in denen schweres Papier umgeblättert wurde. Ich brauchte nur diesem Geräusch zu folgen, um zu finden, was ich suchte. Ich schloss die Augen. Wie von selbst berührten meine Fingerspitzen die Einbände der Bücher in dem Regal neben mir, von denen ich nahezu jedes bereits mehr als einmal in meinem Leben in der Hand gehalten hatte. Feiner Staub begann die Kuppen meiner Finger zu bedecken. Ich lächelte. Armer Malachias! Diesen Wettlauf gegen die Zeit konnte er einfach nicht gewinnen.

Neben mir und Malachias gab es an diesem Abend jedoch einen weiteren Gast in der Bibliothek, deren Name nur geflüstert wurde. Der alte Mann saß an einem überladenen Tisch unter einem geöffneten Fenster, durch das die letzten Sonnenstrahlen eines scheidenden Tages ihren Weg in den Raum fanden. Es war gerade noch hell genug, um auf den Einsatz einer künstlichen Lichtquelle verzichten zu können. Ich warf einen Blick durch das Fenster. Vor meinen Augen eröffnete sich mir ein Panorama, das mir vollkommen unbekannt war. Ich sah hohe Türme, die sich scharf vom blauen Himmel abgrenzten und anscheinend keine Beschränkung nach oben kannten. Sie glänzten silbermatt und dort, wo die Lichtstrahlen sich an ihnen brachen, gleißte der Sonnenball glutrot.

Ich wusste, dass dieser Ausblick nicht real war. Es gab keine Fenster in der Geheimen Bibliothek. Dies war eine Illusion, dazu gedacht, einen Teil dieses Raumes zeitweilig aus der Realität zu verbannen, denn der alte Mann konnte künstlichem Licht nicht viel abgewinnen, und obwohl ich wusste, dass es sich lediglich um eine perfekte Illusion handelte, verschlug mir der Anblick dieser unbekannten Welt den Atem.

„Josua! Was führt dich um diese Zeit und an diesem besonderen Tag hierher? Müsstest du nicht unten sein und mit den anderen feiern? Bedenke, sie sind nur deinetwegen gekommen ...“
Ich lächelte.
„Dein Gehör scheint besser zu sein, als es sonst in den Ratssitzungen den Anschein hat, Großvater! Seit wann weißt du, dass ich hier bin?“
„Ich hörte den Staub, der von deinen Fingern zu Boden rieselte, Josua, doch das erste, was ich vernahm, war dein Atem. Meine Augen vermögen zwar nicht mehr so scharf zu blicken wie in meiner Jugend, doch meine Ohren hören noch jedes leise Geräusch, jedes kleine Gerücht, das am Hofe die Runde macht. Glaube mir, es ist von Vorteil, wenn dich dein Gegenüber unterschätzt und Informationen in deiner Gegenwart preisgibt, die eigentlich nicht für deine Ohren bestimmt sind in der irrigen Annahme, du wärest ein stocktauber alter Narr!“

Großvater wandte sich vom Tisch ab und schenkte mir ein Lächeln aus tiefblauen Augen, die zu jung schienen für das von Falten überzogene Gesicht, das die Last der vergangenen Sommer nicht leugnen konnte. Er rückte seine Brille zurecht und gab mir ein Zeichen näherzutreten. Ich tat, wie er wünschte, und küsste ihn zum Gruß auf die pergamentene Stirn.

„Was machst du hier, Großvater? Warum hast du dich davongestohlen?“
Ich warf einen Blick über seine Schulter auf den Tisch, doch er bemerkte meine Absicht und drehte seinen Oberkörper so, dass ich nur kurz einige aufgerollte Dokumente und ein aufgeschlagenes Buch bemerkte, welches anscheinend nur aus leeren Seiten bestand.
„Ich schreibe ...“
Nachsichtig lächelnd verschränkte ich die Arme vor der Brust und lehnte mich an das nächste Regal.
„Etwa Botschaften an deine Informanten, die du im ganzen Land unterhältst und die für dich, nein verzeih, die für uns ihre Augen und Ohren offen halten?“
Großvater lachte.

„Ach, du weißt davon, Josua? Du bist noch aufmerksamer und gescheiter, als ich es insgeheim gehofft habe. Selbst deine Mutter, die unablässig durch das Land streift und überall Verrat und Betrug zu wittern glaubt, weiß nichts über das feine Informationsnetz, an dem ich die letzten Jahrzehnte gewoben habe. Wärest du nicht mein Verbündeter, Fleisch von meinem Fleisch und ab dem morgigen Tage mein Regent, so müsste ich dich wohl anfangen zu fürchten ...“

„Das wäre anzunehmen! Ich habe viel gelernt von dir, Großvater, mehr als von jedem anderen, der heute noch meinen Aufstieg feiern mag, doch mich schon morgen wahrscheinlich verflucht, da ich nicht mehr nach seiner Musik tanzen werde. Einige am Hofe werden sich noch wundern, wenn sie merken, dass ihr sanftes Schoßhündchen durchaus bereit ist, nicht nur seine Zähne zu zeigen, sondern sie auch zu gebrauchen!“

Vorsichtig nippte ich an dem Met, der golden in der Abendsonne schimmerte. Noch einmal schlug die Illusion mich in ihren Bann.

„Was ist das für ein Ort, Großvater?“

„Die Menschen gaben ihm vor ewigen Zeiten den Namen ‚New York‘. Die Türme, die du siehst, sind längst zu Staub zerfallen und dem Vergessen anheimgefallen. Die Stadt wurde vor über sechstausend Jahren im letzten Großen Krieg zerstört ...“

„Herr, ich habe die Bücher gefunden, nach denen ihr verlangt habt!“
Unbemerkt war Malachias herangetreten, einen Stapel schwerer Wälzer vor der Brust balancierend. Mit einem lauten Knall wuchtete er die Bücher auf die einzige Stelle des Tisches, die noch frei war, wozu er sich auf die Zehenspitzen stellen musste. Einige schon vorhandene Bücherstapel gerieten ins Wanken, zwei oder drei noch verschlossene Pergamentrollen drohten über die Tischkante auf den Boden zu fallen. Gerade noch rechtzeitig griff Großvater nach ihnen.
„Die Tagebücher der 25. Regentin, einige persönliche Aufzeichnungen der damaligen Ratsmitglieder und das letzte Exemplar der Dunklen Prophezeiungen, Herr“, zählte der Zwerg nicht ohne einen Anflug von Stolz in der Stimme auf, noch bevor der feine Bücherstaub sich legen konnte. Zu spät bemerkte er deshalb den mahnenden Blick meines Großvaters, der sich lautstark räusperte, um dann in meine Richtung zu blicken. Wie bereits angedeutet: Malachias pflegte die Welt durch sein ganz persönliches Paar Scheuklappen zu betrachten.

„Oh, mein Fürst, ich habe Euch gar nicht bemerkt!“ Malachias kratzte sich verlegen an seinem feuerroten Backenbart und deutete nach kurzem Überlegen eine Verbeugung an, die ihm so gründlich misslang, dass ich nicht anders konnte, als zu lachen.

„Malachias, ich bitte dich, lass das! Wir kennen uns schon so lange und du wärest der Letzte, von dem ich eine solche Ehrenbezeugung verlangen würde! Aber sage mir, warum hast du Großvater diese Bücher gebracht?“
Malachias antwortete nicht, doch mir blieb der kurze Seitenblick nicht verborgen, den er Großvater zuwarf, und ich verstand.

Ich griff nach dem ersten Buch auf dem Stapel, bevor der alte Mann es verhindern konnte. Es war ein in schwarzes Leder eingebundenes Buch, verstaubt und dreckig. Ich öffnete es, strich die erste Seite glatt und las die ersten Zeilen, die in einer gestochen scharfen Handschrift geschrieben waren.

„´Dieses Buch ist persönlicher Besitz von Lady Meredydd, ihres Zeichens 25. Regentin von Armad-Maar.´ Ich war immer der Meinung, diese Bände wären bereits vor langer Zeit verschollen. Sage du mir, Großvater, wozu brauchst du diese Bücher?“
Er sah mich nicht direkt an.

„Wir leben in schwierigen Zeiten, mein lieber Josua! Seit Kurzem treffen bei mir beunruhigende Nachrichten von meinen Spähern und Informanten aus allen Teilen des Landes ein. Überall im Lande erheben sich unheilvolle Mächte, die ich längst überwunden glaubte. Hast du schon mal von den Revisionisten gehört?“
Ich nickte grimmig.

„Eine Splittergruppe, die den guten alten Zeiten hinterhertrauert und die eine Wiederkehr der Alten Ordnung und der für sie damit verbundenen Privilegien erhofft. Oh ja, Großvater, ich weiß Bescheid! Auch ich habe überall treue und ergebene Verbündete, die mir ihre Ohren und Augen leihen ...“

„Sei still, du Narr! Du hast ja keine Ahnung! Sie trauern nicht nur der Alten Ordnung hinterher, sie wollen sie wiederherstellen, koste es, was es wolle! Sie versuchen unsere Geschichte nach ihren Vorstellungen umzuschreiben und das Rad der Zeit wieder dorthin zu drehen, wo es schon einmal stand. Noch sind es wenige, doch die Bewegung wird immer mehr anlocken mit ihren Versprechungen von vermeintlich goldenen Zeiten. Was als Lufthauch beginnt, kann leicht als Sturm enden, der die Welt, wie wir sie kennen, verwüsten wird. Und sie werden auch nicht davor zurückschrecken, denjenigen zu vernichten, der in ihren Augen wie kein anderer das System repräsentiert, das sie so verachten ...“

„Du meinst ...“

„Ja, Josua, sie werden versuchen, dich ...“, Großvaters Atem stockte kurz, dann fuhr er fort, „... dich ... zu töten, wenn sie die Gelegenheit dazu erhalten sollten!“

Ein Schwindel erfasste mich und ich spürte, wie mir das Methorn entglitt. Es zerschellte am Boden und der dunkle Honigwein vermischte sich mit dem Staub des Bodens, bis er eine große Lache gebildet hatte. Es bedurfte nicht viel Phantasie, um mir vorzustellen, dass es mein Blut sei. Malachias machte Anstalten mir zu Hilfe zu eilen, doch ich winkte entschlossen ab.
„Gut, Großvater, aber wie kann das, was du hier tust, irgendetwas daran ändern?“

„Indem ich dir eine wertvolle Waffe in die Hand lege, gegen die die Revisionisten nichts ausrichten können!“

„Eine Waffe? Hier, in der Geheimen Bibliothek? Ich habe hier fast jeden Raum durchforstet und mehr gesehen, als alle meine Vorgänger zusammen, doch ich habe nie irgendeine Waffe entdeckt, nur Bücher!“

„Die Wahrheit, Josua“, Großvater nickte nachsichtig, „die Wahrheit ist eine mächtige Waffe, das solltest du dir gut merken! Ein weiser Mann hat einmal gesagt, dass die Feder mächtiger sei als das Schwert!“

Ich lächelte verlegen.

„Dann sollte ich wohl alle Schreibkundigen des Landes in das tiefste Verlies werfen lassen, das sich finden lässt ...“
Der alte Mann stutzte einen Moment, dann huschte der Anflug eines Lächelns über sein Gesicht.

„Nein, Josua, das meinte ich nicht damit, doch ich sehe, du verstehst, was ich dir sagen wollte! Um die Revisionisten zu bekämpfen, musst du zuerst ihre Lügen entwaffnen und ein Gegenmittel für das süße Gift finden, das sie der Menge in die Ohren träufeln. Das geht nur mit der Wahrheit! Du musst ihnen die Wahrheit über die Alte Ordnung entgegenschleudern, ihre Versprechungen zerpflücken, ihre dunklen Träume zerstören und deinem Volk zeigen, was es erwartet, sollten sie den Revisionisten folgen! Und dabei werde ich dir helfen. Wenn der rechte Augenblick gekommen und mein Werk vollendet ist, wirst du mich verstehen!“

Er wandte sich wieder seinen Bücherstapeln zu, ohne mich noch einmal anzusehen.
„Ich werde dir Bescheid geben, wenn es soweit ist. Bis dahin bitte ich dich darum, mich in Ruhe arbeiten zu lassen, Josua!“
Ich trat an den Stuhl heran, auf dem Großvater saß, und legte ihm vertraut meine rechte Hand auf seine Schulter. Langsam beugte ich mich hinab, bis meine Lippen ganz in der Nähe seines mit dichtem Grau umflorten Ohres verharrten.

„Ich werde deiner Bitte entsprechen, Großvater! Und weißt du auch, warum? Weil ich dir vertraue, Großvater, weil in deinem kleinen Finger mehr Weisheit und Leben stecken als in zehn der Männer, die mir am morgigen Tag auf Knien die Treue schwören werden, obwohl in ihren Herzen bereits der Samen des Verrates zu keimen begonnen hat. Ich weiß, dass einige von ihnen nur auf den rechten Augenblick warten, in dem sich ihnen die passende Gelegenheit bietet, mich hinterrücks vom Thron stoßen zu können, um selbst zu Macht und Ehre zu gelangen. Du hast mir beigebracht, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen und dafür danke ich dir!“
Ich hauchte zum Abschied einen flüchtigen Kuss auf seine bartlose Wange.

„Versprich mir, dass du nicht mehr allzu lange hier bleibst, Großvater! Denke daran, deine Augen sind nicht mehr die besten. Ich liebe dich, Großvater!“

Einige Schritte ging ich rückwärts, obwohl ich als zukünftiger Regent nicht dazu verpflichtet gewesen wäre, bevor ich auf dem Absatz kehrt machte und die Bibliothek auf geradem Wege verließ.

„Mein Fürst, auf ein Wort!“
Malachias zupfte an meinem Wams, als ich bereits den Türknauf in der Hand hielt und gerade dabei war, die Geheime Bibliothek hinter mir zu schließen. Verlegen folgte er mir vor die Tür, nestelte an dem obersten Knopf seine tartanfarbenen Weste herum, klopfte sich etwas Bücherstaub von seinen Hemdsärmeln und strich durch sein feuerrotes Haar, das an den Schläfen bereits erste Spuren von Grau aufwies. Ich vermochte allerdings nicht zu sagen, ob dies das Grau der vergangenen Sommer war oder vom Staub und Schmutz herrührte, von dem es gerade in dieser Bibliothek mehr als reichlich gab. Da ich Malachias bereits seit meiner frühesten Kindheit kannte, bereitete es mir keine große Schwierigkeit zu erkennen, dass es dem guten Zwerg nicht leicht fiel, das zu tun, wozu auch immer er sich gerade entschlossen hatte.

„Malachias, was kann ich für dich tun?“

„Herr, es geht um Euren Urgroßvater!“
Ich runzelte die Stirn.

„Mein Urgroßvater? Malachias, ich weiß nicht, was du mir sagen willst! Ich habe meinen Urgroßvater nie kennengelernt, denn er lebte zur Zeit der Dunklen Prophezeiung und ist bereits vor langer Zeit zu unseren Ahnen gegangen, noch bevor ich geboren wurde!“

„Aber Ihr habt doch gerade noch mit ihm gesprochen! Sollte es sein, dass Ihr nicht wisst ...“

„Ich habe gerade mit dem Vater meiner Mutter gesprochen! Auch wenn ich über sein Leben eigentlich ebenso wenig weiß wie über das meines Urgroßvaters, so bin ich mir doch gewiss, dass dieser Mann mein Großvater ist!“

Malachias wand sich sichtbar. Augenscheinlich war es ihm unangenehm, mich, seinen zukünftigen Regenten, berichtigen zu müssen.

„Ich weiß, dass es mir nicht zusteht, Euch auf etwaige Lücken in Eurer Familiengeschichte aufmerksam zu machen, Herr. Doch Euer Großvater verließ bereits vor Eurer Geburt die Stadt durch das große Tor und wurde von diesem Augenblick an nicht mehr gesehen. Ich war dabei, mein Fürst! Ich kann Euch versichern, dass Xander euer Urgroßvater ist, so wahr ich hier stehe und ein Zwerg bin!“

„Sagtest du gerade Xander? Sprichst du etwa von dem Xander, der einer der Gefährten von Benu war, einer der Sieben, welche die Dunkle Prophezeiung erfüllt und die Rote Pest und das Schwarze Feuer überwunden haben? Du musst dich irren, Malachias, denn wenn dies wahr wäre, dann wäre er heute ...“

„... hundertdrei Jahre alt! Ja, Herr, doch das war es nicht, weswegen ich Euch ansprach! Wie ich schon sagte, es geht um Euren Urgroßvater, Herr! Er stirbt ... Nein, keine Angst, es wird weder heute noch morgen geschehen, doch das Ende ist abzusehen, denn er sehnt sich nach dem Tod! Er denkt, dass keiner ihn hört, wenn er sich in der Nacht schreiend vor Schmerz in seinem Bett krümmt, doch das stimmt nicht. Ich höre es. Das Rheuma und die Gicht machen ihm seit einiger Zeit immer mehr zu schaffen und ohne den Mohnsaft, den ich stets für ihn zu besorgen weiß, wäre er schon lange nichts anderes mehr als ein vollkommen wahnsinniger und debiler alter Mann ... Verzeiht meine Offenheit, Herr!“
Ich winkte ab und gab ihm mit einer knappen Geste zu verstehen, dass er fortfahren möge.

„Nun, ich glaube, dass er mit den Schmerzen zurechtkommen würde. Sie sind es nicht, die ihn umbringen. Es sind vielmehr seine Erinnerungen, die ihn quälen und bis aufs Blut peinigen, Herr. Erinnerungen an längst vergessene Tage, die nur noch in Sagen beschrieben und in Liedern besungen werden, an Orte, die der Nachwelt nichts anderes hinterließen als ihre Ruinen und Erinnerungen an jene Personen, die ihn viel zu früh verlassen haben. Woher ich das weiß? In den Gemäuern des Palastes gibt es viele geheime Gänge und Türen, von denen noch nicht einmal Ihr Kenntnis habt, Herr! Oh, ich bin gewiss, Ihr habt schon etliche von ihnen entdeckt und benutzt, doch wirklich alle kenne nur ich. Ich stehe oft am Bett Eures Urgroßvaters, wenn er denn endlich in den Schlaf gefunden hat, und wache über ihn. Ich sehe seine Tränen, höre, wie er voller Pein die Namen der Verblichenen im Dunkeln flüstert und er sich schweißgebadet aufbäumt, während seine Hände immer noch nach den schemenhaften Gestalten ausgestreckt sind, die gerade noch zum Greifen nah, doch für ihn unerreichbar sind! Er ist der Letzte, Herr! Der Letzte der Sieben, der noch zu berichten weiß, was damals geschehen ist, der Letzte aus der Alten Zeit, denn seine Gefährten sind für immer in die Nebel des Vergessens eingetreten und kommen nie wieder. Und er sehnt sich nach ihnen ...“

Malachias griff in seine Westentasche, zog eine goldene Uhr hervor, sah einen Moment gedankenverloren darauf und steckte sie sogleich wieder an ihren Platz, so als hätte er nur kurz nachschauen wollen, ob sie auch wirklich noch da wäre. Er seufzte. Ich hatte mich inzwischen auf eine steinerne Bank in der Nähe gesetzt, da meine Beine während seiner Erläuterungen immer schwerer geworden waren und ich nur ungern an der Wand nach Halt gesucht hätte. Ich gab Malachias einen Wink, es mir gleichzutun, und er setzte sich erfreut zu mir auf die Bank.

„Der einzige Grund, der ihn daran hindert, seinem Leben freiwillig ein Ende zu setzen, um wieder mit denen vereint zu sein, die er einst liebte und verehrte, seid Ihr, Josua! Er hat Angst um Euch, da er weiß, dass er nicht auf ewig an Eurer Seite stehen und Euch vor den Gefahren der Zukunft schützen kann. Vor einem Jahr betrat er zum ersten Mal seit den Tagen der Dunklen Prophezeiung die Geheime Bibliothek und beauftragte mich damit, gewisse Dokumente, Bücher und Zeugnisse der damaligen Zeit zusammenzutragen. Dann begann er unverzüglich mit der Arbeit an diesem Manuskript. Die sogenannte ‚Waffe‘, die er für Euch zu schärfen gedachte, Herr! Aber ich glaube nicht an diese Waffe. Ich denke vielmehr, dass es sich dabei in Wirklichkeit um sein Testament handelt und ein unbestimmtes Gefühl sagt mir, dass es diese Welt zusammen mit ihm verlassen wird. Darum habe ich etwas getan, das ich nicht hätte tun dürfen. Doch glaubt mir, mein Fürst, ich tat es für Euch, das schwöre ich bei allem, was mir heilig ist!“

„Was hast du getan, Malachias?“ Meine Stimme zitterte. Ich konnte nichts dagegen tun.

„Wie Ihr vielleicht wisst, arbeite ich so gut wie jeden Tag und jede Nacht in dieser Bibliothek, Herr. Ich habe sogar meine Schlafstatt in einem der etwas abgelegeneren Räume aufgestellt ... Nun, Euer Urgroßvater kommt meist im Laufe des Tages in die Bibliothek, beauftragt mich mit einigen Nachforschungen und arbeitet dann an seinem Manuskript, bis draußen die Nacht anbricht. Dann, bevor er seinen Platz wieder verlässt, verstaut er seine Aufzeichnungen, wenn ich nicht in seiner Nähe bin, an einem seiner Meinung nach sicheren Ort. In völliger Dunkelheit. Nun, es ist wahrscheinlich nicht so bekannt, doch Zwergenaugen haben gegenüber menschlichen Augen den Vorteil, dass sie auch in tiefster Schwärze noch hervorragende Dienste leisten ... Kurz und gut, eines Abends sah ich zufällig, wo er das Manuskript versteckte und ich nahm es an mich und ... kopierte es!“

Ich schloss kurz die Augen. Zu viele Gedanken beanspruchten gerade in meinem Kopf denselben Platz und standen sich dabei gegenseitig im Wege. In dieser Nacht, so befürchtete ich, würde ich wohl nicht viel Ruhe und noch weniger Schlaf finden.

„Wo ist die Kopie des Manuskriptes jetzt? Hast du es gelesen?“
Mit einem Ausdruck des Entsetzens auf seinem Gesicht sprang Malachias auf, trat zwei Schritte zurück, fuhr sich zerstreut durch das Haar und richtete sich schließlich zu seiner vollen Größe auf, beide Hände hinter den Rücken verschränkend.

„Wo denkt Ihr hin, Herr! Es ist nicht üblich und auch nicht notwendig, sich beim Kopieren mit dem Inhalt des Textes zu befassen; jeder Kopist wird Euch bestätigen, dass dies nur ablenken würde und der Arbeit nicht förderlich wäre. Zudem ist es in einer Sprache geschrieben, die ich noch nie gesehen habe! Ich bin ein guter Bibliothekar und dies war nicht das erste Werk, das ich im Laufe meines Lebens vervielfältigt habe. Zeichen für Zeichen habe ich es für Euch abgeschrieben!“

Er zog unter seiner Weste einen dicken Packen Papier hervor und reichte es mir mit bebenden Händen. Ich warf einen Blick darauf und erkannte sofort die saubere, wenn auch etwas schnörkelige Handschrift des Zwerges und ich verstand, warum er es nicht lesen konnte. Es war in einer Sprache geschrieben, die mir mein Großvater, nein, mein Urgroßvater beigebracht hatte, als ich noch sehr jung gewesen war und die außer ihm und mir kein weiterer Mensch lesen konnte. Er nannte die Sprache Englisch. Vorsichtig strich ich über das schwere Papier.

„Es ist vollständig, Herr! Euer Urgroßvater hat es vor einigen Tagen beendet und überprüft zurzeit nur noch einige Quellen ... Wenn Ihr mich nun entschuldigen mögt, ich habe noch viel Arbeit, die nach mir ruft!“

„Ich verstehe, Malachias.“ Ich sah auf das Manuskript hinab und kniete mich, einer inneren Eingebung folgend, neben dem kleinwüchsigen Bibliothekar nieder. „Ich danke dir!“, sagte ich und umarmte Malachias, dem diese Gunstbezeugung sichtbar peinlich war. Rasch stand ich wieder auf und ließ die Geheime Bibliothek, die manche auch die Unsichtbare nannten, endgültig hinter mir. In meinen Händen hielt ich die Aufzeichnungen, die etwas Licht in die Zeit der Dunklen Prophezeiung bringen sollten und von denen ich noch nicht wusste, dass sie meine Sicht der Dinge vollkommen verändern würden ...

Dies alles geschah vor einem halben Jahr und viel ist seitdem geschehen: meine Krönung, meine Verlobung und der erste Aufstand in der Provinz Argon; letzerer konnte glücklicherweise niedergeschlagen werden, wenn auch die Revisionisten, die ihn angezettelt hatten, den regierungstreuen Truppen leider entkamen.

Urgroßvater behielt also recht. Der laue Wind ist dabei, sich zu einem Sturm zu entwickeln und ich hoffe bei allen Mächten, dass es mir noch möglich ist, ihn letztendlich abzuwehren. Urgroßvater wüsste bestimmt, was nun zu tun sei, doch ihn kann ich nicht mehr um Rat fragen. Er verschwand zwei Tage nach meiner Krönung ohne eine Spur zu hinterlassen und nahm das Buch mit sich, so wie Malachias es von Anfang an vermutet hatte. Ich habe die Hoffnung, ihn noch einmal sehen und sprechen zu können, bereits aufgegeben. Vielleicht ist er jetzt bei seinen Gefährten und hat die Ruhe gefunden, nach der er sich so gesehnt hat oder er befindet sich an einem ganz anderen Ort, an dem selbst ich ihm nicht folgen kann.
Das Einzige, was mir von ihm geblieben ist, liegt nun vor mir: Malachias Abschrift seines Manuskriptes. Einiges von dem, worüber Xander schrieb, erscheint mir merkwürdig und fremd, doch ich habe alles genauso übernommen, wie ich es vorfand. Möge dieses Werk den Verzagten und Unsicheren die Augen öffnen, so wie es mir erging, und sie für die Reize der Alten Ordnung unempfindlich machen. Mögen Xanders Worte das Schicksal der Welt wieder zum Licht hinwenden, auf dass der Kelch der Vernichtung erneut an uns vorübergeht.

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Anm. d. Red.: Ihr möchtet wissen, wie die Geschichte weitergeht? Oder wollt unbedingt ein Feedback für den Autor abgegeben? Das könnt ihr gern tun im » Forums-Thread von Dandelion.


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